Autor: Henri du Vinage
September 2019
Deutschland
Wandern auf dem Rheinsteig ist kein Spaziergang. Aus den 320 werden 400 Kilometer. Zuwege, Irrwege und Umwege mit eingerechnet. Der Weg plaudert über Kultur und Geschichte.
Geschafft! Unsere letzte Etappe von Braubach nach Filsen hatten wir ausgesetzt und holen sie nun nach. Es soll Leute geben, welche die Tour von Wiesbaden bis Bonn oder vice versa hintereinander weglaufen. Die Standardeinteilung sind 18 Tagesetappen mit im Schnitt 18 Kilometern. Durchtrainierte Wanderer schaffen die Strecke in 10 bis 12 Tagestouren. Wir vollendeten die Wanderung nach 400 gelaufenen Kilometern, mitgezählt sind die Zuwege von den Parkplätzen oder Bahnhöfen und die Irrwege. Rekorde brechen – nicht unser Ding, durchrasen – nicht unser Ding, immer am Limit der Kräfte sein – nicht unser Ding. Gefühle ansprechen, alle Sensoren auf Empfang stellen – das ist unser Ding. Die Laute des Waldes, das Klopfen des Spechts hören. Das Sägen der Handwerker wahrnehmen. Stürme, Hagelschläge, Regenschauer und Verwitterungen schnitzten natürliche Kunstwerke in Wurzelwerk, Stämme und Äste. Abstrakte Baumkunst beflügelt meine Fantasie. Barfuß auf den Moosteppichen versinken. Das feuchte, butterweiche Geflecht streichelt Fußsohlen und Geist. Den modrigen Geruch des feuchten Waldes und den Duft von geschnittenem Gras durch die Nasenflügel spülen lassen. Innehalten, Meditieren, Wandern. Abgeschiedenheit und Zivilisation sind nahe beieinander. Auch das Leben am Rhein nimmt uns gefangen. Die Bahn rauscht an beiden Ufern des Flusses entlang, rattert, tutet, transportiert Waren und Menschen. Auf dem Strom ziehen Schiffe mit Fracht vorbei. Die Dieselmotore rumpeln vor sich hin. Dann ein Fest. Schlager und Volksmusik. Zeit für Wein, Bier und Gespräche. Smetanas Moldau klingt in meinen Ohren. Das muss der gute alte Bedřich ähnlich empfunden haben.
Auf einem der steilen Anstiege kommt in schwingenden Schritten ein Trekker daher. Wir halten kurz inne und üben Smalltalk: „Wo kommst du her? Wie ist der Weg? Wo hast du übernachtet?“ Sein Gesicht ist zerfurcht. Die Falten erzählen vom Leben. Der Mann wedelt mit einem Smartphone herum: „Das Ding hat mir meine Tochter geschenkt. Ich soll mich andauernd melden, weil sie sich sorgen. Ich bin achtzig und fit“, und winkt, hinterlässt eine Staubwolke und springt, einem jungen Bock gleich von Stein zu Stein. Wir grinsen: „Respekt“. Die Steigung lässt den Schweiß aus allen Poren quellen. Wir kommen uns wie Methusalem vor. Zweihundertfünfzig Jahre alt. Auf jedem Bein.
Über viele Strecken des Weges pilgern wir in der einsamen Natur. Kein Mensch unterwegs. Wälder wechseln sich ab mit Feldern, in denen abhängig von der Jahreszeit der Raps gelbblütig den Frühling verkündet oder auf den Wiesen blühen die von den Bienen geliebten Blumen. Die Wildbienen arbeiten im Radius von fünfhundert Metern zu ihrer Behausung. Wir stoppen und lauschen dem Konzert der Vögel. Das Gezwitscher dringt mit zarten, manchmal schrillen oder rufenden Lauten tief in unser Ohr. Gebannt lauschen wir und ohne uns gegenseitig zu sehen, zückt jeder fremdgesteuert sein Handy und nimmt die Vogelkompositionen auf. Schade, dass wir nichts verstehen können. „Komm‘ ’mal rüber, Mädchen“, oder „Gib‘ nicht so an mit deinem Gepiepe“. Wir fantasieren, lachen und ziehen weiter.
Viele Touren führen an Burgen und -ruinen, an Klöstern und historischen Sehenswürdigkeiten vorbei. Unsere zweite Tour führt uns von Rauenthal zum Weinort Oestrich-Winkel. Wir verweilen in der ehemaligen Klosteranlage Eberbach. Das im 12. Jahrhundert gegründete Zisterzienserkloster entwickelte sich nach einer bewegten Geschichte zu einem touristischen Highlight der Region. Die 800 Jahre alte Tradition des Weinbaus wird vom Land Hessen, als Gesellschafter des Guts fortgeführt. 250 ha Rebfläche bringen durch verschiedenste Böden und Rebsorten einen Fächer von unterschiedlichsten Weinen hervor. Wir besichtigen das Kloster und stellen fest, dass wir locker einen ganzen Tag hier verbringen könnten. Weinprobe und Übernachtung im Kloster-(Luxus)Hotel eingeschlossen. Aber Vorsicht! Nachts spukt Sean Connery als William von Bakerville durch die im Kerzenlicht flackernden Gänge. Der Film „Im Namen der Rose“, nach dem gleichnamigen Roman von Umberto Ecco wurde hier verfilmt. Später führt der Weg vorbei an der im 12. Jahrhundert erbauten Burg Scharfenstein. Vor zehn Jahren wurde der Bergfried saniert.
Die Wanderung von Lorch bis nach Dörscheid mit verletzungsbedingtem Halt in Kaub blieb mir besonders in Erinnerung. Wir marschieren über eine Stunde durch die Wälder Richtung Kaub, träumen und erreichen eine Lichtung. Hier tummeln sich zwei Frischlinge, futtern und nehmen keine Notiz von uns. „Warte“, sagt meine Frau und läuft zu den Tieren, um sie zu fotografieren. „Komm zurück. Das ist gefährlich. Wir müssen hier schleunigst fort, bevor die Bache oder der Keiler nahen, um uns aufzuspießen“. Wir flitzen um die Ecke, sind außer Atem, stiefeln unbeirrt weiter. Eine Frau kommt uns entgegen. „Passen sie auf. Dahinten sind Frischlinge im Wald“, warnen wir sie. Die Dame wird aufgeregt: „Danke, danke. Vor einigen Wochen bin ich hier spazieren gegangen, da kam ein Keiler mit einem Affentempo den Berg heruntergerast, sprang zehn Meter vor mir auf den Weg und verschwand dann wieder im Dickicht. Ich hatte furchtbare Angst.“ Sie dreht schnurstracks um und entfernt sich mit großen Schritten.
Vom steilen Wingert aus, blicken wir auf den Ort Kaub, auf den Rhein und die Insel mit der Burg Pfalzgrafenstein. Plötzlich verkrampfen meine Waden und mit Schmerzen, kleinen Pausen und Unterstützung meiner Frau schleppe ich mich in die Pension. Zwangsabbruch in Kaub. Es soll sich lohnen. Der Ort entpuppt sich als geschichtsträchtig. Im Blüchermuseum, wir sind die einzigen Besucher, erzählt uns die Mitarbeiterin des Hauses vom ruhmvollen Sieg der schlesischen Armee gegen die Truppen Napoleons in der Neujahrswoche des Jahres 1814. Die Erzählung der Kriegsereignisse beeindruckt, als wären wir selbst dabei gewesen.
Der Steig zeigt überall ein anderes Bild, plaudert über Kultur und Geschichte. Die deutschen Dichter, Goethe, Brentano und Heine romantisierten die Rheinlandschaft in zahlreichen Gedichten. Die Begeisterung erfasste auch Victor Hugo und William Turner, der das Land dem englischen Publikum in vielen Gemälden vorstellte. Der Mythos Rhein hat von seiner Strahlkraft bis zum heutigen Tage nichts verloren.
TIPP 1: Wandern auf dem Rheinsteig ist kein Spaziergang. Sichere Ausrüstung ist notwendig: Wanderstiefel, Bekleidung, die allen Wetterkapriolen angepasst ist: Regenponcho, wasserdichte Schuhe und Jacke, atmungsaktive Wäsche, mindestens 1 Liter Wasser und Snacks.
Einkehren ist nicht immer möglich. Informiere Dich in der gängigen Literatur.
TIPP 2: Wanderkarte, Guide mit Tourinformationen: App von Outdooractive ist hilfreich.
TIPP 3: Pensionen vorher buchen, da am Rhein stets etwas los ist und außerhalb der Saison in den kleineren Orten viele Häuser geschlossen sind (auch Restaurants).
Vlasta Valter (Sonntag, 20 Oktober 2019 17:26)
Hallo Henri,
immer wieder schön deine Reise-Berichte. Interessant, sehr informativ, humorvoll und kurzweilig. Ich freue mich immer, wenn ihr verreist (und zum Glück ist es nicht selten �), dann weiß ich, dass ich bald auf diese Weise mit euch ein bisschen mitreisen darf. Danke dafür.
Liebe Grüße Vlasta
Paul Tücks (Donnerstag, 03 Oktober 2019 14:32)
Hallo Henri,
wenn ich gewußt hätte, dass Du den Rheinsteig erwanderst, hätte ich Dir von der anderen Rheinseite rübergewunken. Immer wieder schön, von Dir zu lesen.
Gute Zeit!
Paul
Werner Gollbach (Donnerstag, 03 Oktober 2019 09:19)
Hallo Henri, ich habe deinen Bericht von eurer Wanderung mit auf dem Rheinsteig mit Begeisterung gelesen. Wie immer hast du wieder sehr informativ und auch humorvoll von euren Erlebnissen berichtet. Man war streckenweise mit dabei und eure Wanderung und die geschilderten Erlebnisse machen Appetit zum Nachmachen. Vielen Dank für die spannende und informative Unterhaltung.
LG Werner